Thread: Poezia
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Old 14 Oct 2004, 01:13   #20
Bulumulu
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Bulumulu
 
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Sturmnacht

Der Gott erschrak in seiner Einsamkeit.
Er sah tief unten in der grauen Zeit
den Herbsttag gehn. Der war so greisenhaft,
als reichte nicht zum Abendrande weit
der matte Pfeil vom Bogen seiner Kraft.
Oft stand er still undstarrte nach den Huegeln
und endlich sank er matt ins arme Gras;
und wie der giere Geier auf das Aas,
so fiel auf ihn mit schweren, schwarzen Fluegeln
die nasse Nacht, die seine Seele frass.

Die schwarze Nacht sass auf dem toten Tag,
und Gott erschrak.
Sein Blick ging lange in dem Dunkel irr,
und als er trat aus Wolken und Gewirr,
fand er die Ferne nicht, nicht Flut noch Feld,
die schwarze Nacht frass an der ganzen Welt.
Da ahnte Gott, der schaurend niederblickte,
wie unter diesem schweren Schwingenschlag
die weite Welt erstarrte und erstickte
so wie ein Tag.
Und ploetzlich wusste er: er liebte sie;
doch reglos schattend blieb das Nachtgefieder,
als von dem Rand der leeren Himmel nieder
sein Wille schrie..

Aber der Gott wird groesser im Grimme,
wenn er einmal sein einsames Leid
in dieerwachenden Welten schreit,
ist der Sturm seine Stimme.
Und dann reisst sein wehendes Wort
von den Monden die Wolken fort:
und so sah er im Schimmer thronen
lauter aehnliche Ewigkeiten,
sah die Sterne der Stille wohnen
und die Welten im Wandel schreiten.
Und sein Bangen fand alles geborgen,
in dem leise liebkosenden Licht,
aber ueber dem Gestern und Morgen
schwieg die Nacht und sie ruehrte sich nicht.

Und da war der Gott wie ein Kind,
und er wurde vor Weinen blind,
und durch den wimmernden Wind
grill er mit hilflosen Haenden:
ob sie im Aether die Ufer faenden,
welche die Spitzen der Tuerme sind.
Sein Weinen verwaiste und rief:
"Ist denn die Welt so tief, so tief,
dass der Gott, der Sommer und Sonnen sann,
der in alle Gedanken tauchte,
den Rauch, der um ihre Gipfel rauchte
ihrem Atem - nicht einmal erreichen kann?
Ist dort kein Garten, der Blueten weht,
kein lauschendes Leid, kkein waches Gebet,
keine Stille, die mich versteht?"

Auf Erden war nur ein einziges Licht,
das in dem samtenen Dunkel dicht
an der Wiege des Rindes wachte
und an sein aermliches Dasein dachte,
als die Stimme des Sturmes klang.
Da wurde dem Funken so heimwehbang,
dass er aus blinkendem Becher sachte
wie der Quell aus dem Felsen sprang
und, die Falten der Vorhangs entlang,
wuenschend nach allen Waenden griff,
bis sich berstend die Balken bogen,
und auf hohen, lodernden Wogen
trieb die Wiege, das schlummernde Schiff.

Da regt sich die Welt. Von den Haengen hebt
scheu sich die Nacht vor dem siegenden Scheine.
Es laechelt das Gott; er weiss nur das eine:
Sie lebt!

Rilke
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